Text zum Vortrag "Die Malerei des russischen Realismus" (1850 – 1900).

Ein Bericht zum Vortrag von Dr. Dieter Weißenborn

Die Wolgatreidler - Ilia Repin. 1870-1873. Schnell kristallisierte sich heraus, welche Bildformate die "Wanderer" in die Ausstellung gaben: Genrebilder, Portraits, Landschaftsbilder und oft auch Historienbilder, in denen das Portrait und die Landschaft zu ihrem Recht kamen.
Nun, die "Wanderer" waren eine Gruppe von jungen Malern der Kunstakademien in St. Petersburg und Moskau, die sich gegen die Ausbildung der etablierten Kunstakademien wehrten und die sog. "Genossenschaft der Wandermaler" gründeten.
Ziel war es, auch in der Provinz auszustellen und nicht nur in den Metropolen St. Petersburg und Moskau. Dazu wollten sie die Liebe zur Kunst wecken und - nicht ganz selbstlos - auch ihre Bilder verkaufen. Alles das gelang in den über 50 Jahren des Bestehens der Genossenschaft, und zwar in über 40 Ausstellungen, beschickt von über 100 Malern, die sich bei den Wanderern organisierten.
Ihr bekanntester Mäzen war Pawel Tretjakow. Er kaufte viele Bilder der jungen Malerelite. Er regte auch zu vielen Bildern an. Am wichtigsten aber war, dass er die erworbenen Bilder in einem von ihm errichteten Museum in Moskau ausstellte: in der auch heute noch weltberühmten nach ihm benannten Tretjakow - Galerie. Der Zufall will es, dass eines der bekanntesten Bilder des russischen Realismus nicht in Moskau hängt, sondern in St. Petersburg im Russischen Museum: "Die Wolgatreidler" von Ilja Repin. Der Berühmteste und wohl auch der Genialste dieser Malertruppe war Ilja Repin (1844- 1930).

Lreuzprozession_im Gouvernement Kursk - Ilia Repin. 1880-1883. Auf den Betrachter kommt ein Zug von Wolgatreidlern zu. Elf Männer ziehen unter Aufbietung aller Kräfte ein Schiff Wolga aufwärts.
Dieses Motiv sei eine ungeheure Entweihung der Kunst, meinte der Rektor der St. Petersburger Kunstakademie. Für Maler des Realismus waren solche Alltagsszenen ein Muss. Die sozialen Missstände galt es zu kritisieren. Man hatte die Hoffnung, dass sich Ungerechtigkeiten beseitigen ließen, wenn man sie darstellte und darüber sprach, sich empörte und Änderungen forderte.
Ilja Repin reiste mit einem Malerfreund mehrmals an die Wolga. Sie suchten Kontakt zu den Treidlern, was gelang. Kanin ist der Name des Führers der Truppe. Larka heißt der Junge in der Mitte. Bei beiden – wie bei den anderen – wird nicht nur die harte Realität dargestellt, sondern vor allem der Charakter der Männer, ihre innere Kraft.
Repin sagt über Kanin: "Kanin, mit einem Lappen auf dem Kopf, und in Flicken, die er eigenhändig zusammengenäht hatte, und die bereits wieder durchgescheuert waren, war ein Mensch, der zu großem Respekt vor seiner Person nötigte. Er hatte etwas von einem Heiligen, der auf dem Prüfstand steht!"
Larka, der junge Bursche, ist der einzige, der den Versuch zu unternehmen scheint, sich vom Joch des Schlepptaus zu befreien und sich seinem Schicksal zu widersetzen.
Grimmig schaut der Matrose neben Kanin den Betrachter an. Zuerst malte Repin ihn mit geneigtem Kopf.
Dostojewskij kannte das Bild: "Man muss die schutzlosen Menschen lieben, man kann nicht an ihnen vorbeigehen, ohne sie ins Herz zu schließen. Wenn man das Bild betrachtet, fühlt man sich spontan verpflichtet, für diese Leute etwas zu tun, sich für sie einzusetzen."

Nahe Kursk hielt ein Kloster berühmte Kreuzprozessionen ab. Repin sah eine solche und meinte, dass man hier in der Provinz wesentlich aufrichtiger sei als in der Stadt. Es wurde ein Bild, in dem der Maler über Russland und über das Schicksal seines Volkes nachdenkt.
Eine lärmende Menschenmenge zieht an dem Betrachter vorüber: Wie abwesend reiten Geistliche, Gendarmen prügeln vom hohen Ross herab, Menschen aller sozialen Schichten sind bunt zusammengewürfelt.
Was eine solche Prozession prägen sollte, scheint zu fehlen: der Glaube.
Ihn meint man einzig zu spüren in dem an Krücken heraneilenden Jungen, der von einem Ordnungshüter mit einem Knüppel abgedrängt wird vom Zentrum der Prozession. Im Mittelpunkt steht eine selbstgefällige Matrone, eine Ikone vor sich hertragend. Voran schreitet ein Priester.
Interessant dazu der Gedankenaustausch zwischen Repin und seinem Freund und Gönner Pawel Tretjakow. Der schlägt dem Maler vor, " … an die Stelle des Weibes mit dem Ikonenkasten ein sympathisches junges Mädchen (zu setzen), das voller Glauben, ja voller Verzückung voranschreitet." Repin lehnt selbstbewusst ab und erwidert: " Für mich ist die Wahrheit das höchste - die Wahrheit des Lebens, …" Es blieb bei dem einmal gewählten Motiv.

Die bojarinja Morosowa - Wassili Surikow. 1884-1887. Dieses Historiengemälde nimmt das Thema Kirchenreform und Kirchenspaltung im Russland des 17. Jh. auf. Peter I., der Große, verfügte die Reform von oben. Widerstand war zu erwarten. Die Bojarinja Morosowa war eine Leitfigur des Protestes.
Und hier auf dem Bild sieht man sie auf dem Weg zum Verhör in den Kreml, schon inhaftiert und gefangen gehalten in einem Erdloch, gezeichnet von Entbehrung und Folter. Ihr Gesicht sticht heraus aus der bunten Umgebung. Surikow gelang das Antlitz der Bojarin erst zuletzt, als er schon alle anderen Personen gemalt hatte. Immer wieder war ihr Gesicht zu klein, zu wenig ausdrucksvoll. Bis ihm eine Gebetsvorleserin aus dem Ural begegnete. Sie sah er, und sie wurde spontan sein Modell für die Morosowa.
Die Menschen, durch die sich der Schlitten seinen Weg bahnt, sind mit ihren Gesichtsausdrücken und ihren Gesten Spiegel der Zeit des Umbruchs. Das reicht von Schmerz, Schreck, Grübeln bis hin zu Hohn und Schadenfreude.
Nachdenklich der Junge links vom Schlitten; schmerzerfüllt die junge Frau in blauem Mantel mit gelbem Tuch, die sich wie zum langen Abschied tief verneigt.
Dreihundert Jahre nach diesem Ereignis begriffen Surikows Zeitgenossen die Botschaft des Malers. Man befand sich wieder in einer Übergangsphase, in der es galt, sich zu behaupten und durchzusetzen. Auch heutigen Betrachtern fällt es wohl nicht schwer, Parallelen zu ziehen.

Dostojewskij - Wassili Perow. 1872. Portraits waren ein weiteres entscheidendes Bildformat der Maler des russischen Realismus.
Galerist und Mäzen Pawel Tretjakow war es, der zu den Portraits geradezu aufforderte. Für ihn war eine Galerie der Männer "des Rates und der Wahrheit" - wie er die führenden Köpfe seiner Zeit nannte – notwendig für seine Zeitgenossen und die kommenden Generationen.
Kein Zufall, dass Ilja Repin in der ersten Reihe der Portraitmaler der "Wanderer" stand.

Pawel Tretjakow - Ilia Repin. 1883. Er malte Tretjakow, den Freund und Förderer, als er schon drei Jahre tot war..
Repin sagte: "Am Grabe Pawel Tretjakows (…) brachte ich meinen Wunsch zum Ausdruck, für die Galerie ein besonderes Porträt Tretjakows zu malen. Ich wollte den Sammler in seiner letzten Lebensphase zeigen,…" Und auch: Das Engagement Tretjakows für die "Wanderer" war "eine beispielhafte Großtat".
Tretjakow gab den Auftrag zu diesem Portrait. Er wollte den Dichter gerne besuchen, um mit ihm zu sprechen. Aber er wagte es nicht – wie er gestand – den Dichter zu stören.
Wie sehr Tretjakow Dostojewskij schätzte, geht aus einem Brief hervor: "Er war nicht nur ein großer Schriftsteller, er war bis ins Innerste Russe, der seine Heimat trotz aller ihrer Missstände glühend liebte. Er war nicht nur ein Apostel (…) , er war ein Prophet; er war ein Lehrer für alles , was gut ist, er war das Gewissen unserer Gesellschaft."
Perow war dreimal in St. Petersburg, um Dostojewskij zu malen. Und: Dieses Portrait ist das einzige, das zu Lebzeiten des Dichters gemalt wurde. Dostojewskij schrieb gerade an seinem Roman "Dämonen".

Das stille Kloster - Isaak Levitan. 1890. Die Landschaft ist eines der weiteren Bildformate der Wander-Maler. Einer ihrer beliebtesten ist bis heute Isaak Lewitan (1860 – 1900). Ein Zeitgenosse sagt von ihm: " Er ist ein russischer Maler, nicht etwa deshalb, weil er aus patriotischen Gründen russische Motive wählte, sondern weil er die geheimnisvolle Schönheit, den Liebreiz und den versteckten Sinn der russischen Landschaft verstand."
Frühling. Hochwasser - Isaak Levitan. 1897. Auf einer Wanderung entlang der Wolga entdeckte der Maler ein abgelegenes Kloster. Die untergehende Sonne bescheint Kirche und Glockenturm. Fern ab von der Welt sieht man einen idealen Ort, der Schönheit, Ruhe und Frieden ausstrahlt. Für die Russen bleibt es eines der beliebtesten Gemälde.

Nicht minder populär ist Lewitans Bild: "Frühling. Hochwasser" (1897). Der Frühlingsbeginn, eine der Lieblingsjahreszeiten des Malers, ist Thema des Bildes. Musikalisch-rhythmisch scheint alles zusammenzuwirken: das blaue Wasser, der leuchtend blaue Himmel, die jungen Birken und Espen im Hochwasser, durch die hindurch man die umliegenden Dörfer erkennt.
Von dieser letzten Lebensphase des Malers sagt der Freund und Dichter Anton Tschechow: " Diese erstaunliche Schlichtheit und Klarheit in der Aussage seiner Bilder, zu der sich Lewitan in der letzten Zeit steigerte, hat vor ihm noch niemand erreicht, und ich weiß nicht, ob jemand nach ihm dazu fähig sein wird."

Holzschlag - Iwan Schischkin. 1867. Iwan Schischkin, der Maler des russischen Waldes. Ein Malerfreund schreibt über ihn: "Er ist eine eigene Schule … Ein Meilenstein in der Entwicklung der russischen Landschaftsmalerei."
In einer Zeit stürmischer Entwicklung der Naturwissenschaften ist es Ziel Schischkins, die Natur künstlerisch präzise zu erfassen und zu verstehen. Seine Bilder hinterlassen den Eindruck, als wolle der Maler die Natur Stück für Stück rekonstruieren.
So in seinem Bild "Holzschlag" (1867).

Roggenfeld - Iwan Schischkin. 1878. "Roggenfeld" (1878) gilt als ein Meilenstein der russischen Landschaftsmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Rhythmisch gestaffelt ist der Bildaufbau dieser monumentalen Panoramakomposition. Menschen sind nicht zu sehen, aber gegenwärtig.: Das Feld ist bestellt, und ein Weg führt in die Weite.

Blick auf die Umgebung von Duesseldorf - Iwan Schischkin. 1865. Wie viele "Wanderer" war auch Schischkin in Deutschland. Die Kunstakademie in Düsseldorf, d.h. die Düsseldorfer Malerschule, zogen auch die russischen Maler an. Die Düsseldorfer Professoren genossen einen ausgezeichneten Ruf als Lehrer im Zeichnen, in der Wiedergabe des Panoramablicks und in ihrer Treue zur heimischen Natur.
Das waren Voraussetzungen dafür, dass Schischkin über Monate in Düsseldorf Station machte. In der Kunstszene der rheinischen Metropole war er als Zeichner sehr erfolgreich, auch kommerziell. Auch Galerien in Bonn und Aachen bemühten sich um ihn. Und die Düsseldorfer Professoren ermahnten ihre deutschen Studenten, beim nächsten Examen so gut zu zeichnen wie der Russe Schischkin. Das Gemälde "Blick auf die Umgebung von Düsseldorf" entstand in der Tradition der Düsseldorfer Akademie und brachte Schischkin die Mitgliedschaft in der St. Petersburger Akademie ein.

Text: Dr. D. Weißenborn

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